Was bedeutet Qualzucht für die Tiere und was muss sich ändern, damit ihr Leid endet? Fachtierarzt Dr. Friedrich E. Röcken gibt uns Einblicke zu Tierleid, Gesetz und Lösungsansätzen.
Als Fachtierarzt für Kleintiere und Chirurgie der Kleintiere betreibt Dr. med. vet. Friedrich E. Röcken eine eigene Praxis in Schleswig-Holstein. Er ist zudem Leiter der Arbeitsgruppe Qualzuchten der Bundestierärztekammer und engagiert sich im Rahmen dessen für zahlreiche Aufklärungsinitiativen.
Qualzuchtrassen sind beliebt – das sieht man vor allem auf Social Media und Co. Doch die Modetiere leiden extrem für ihr Aussehen. Von Tierschutzorganisationen und Tierärzten gibt es immer wieder Kritik an Gesetzgebung und Zucht. Im Gespräch mit dem Experten Herrn Dr. Röcken gehen wir dem Thema Qualzucht genauer auf den Grund.
Experteninterview mit Fachtierarzt Dr. Röcken
Herr Dr. Röcken, was versteht man unter Qualzucht?
Dr. Friedrich E. Röcken: Von Qualzucht sprechen wir dann, wenn in der Zucht bestimmte Merkmale geduldet oder gefördert werden, die für das Tier mit Schmerzen, Leiden, Schäden oder Verhaltensänderungen verbunden sind. Laut Rassestandard typische Merkmalsausprägungen werden hierbei extrem ausgereizt.
Was genau bedeutet das für die Tiere?
Röcken: Aufgrund anatomischer Besonderheiten, die aus einer Qualzucht hervorgehen, besteht für die Tiere meist eine erhöhte Erkrankungsdisposition. Das heißt, die Veränderung von Aussehen, Organen und Organfunktionen der Tiere hat erhebliche gesundheitliche Einschränkungen zur Folge. Das wiederum geht auch oft mit einer geringeren Lebenserwartung einher.
Haben Sie ein Beispiel?
Röcken: Denken Sie mal an den Mops, an die Französische Bulldogge, die Englische Bulldogge, den Shih Tzu oder auch den Boston Terrier. Diese Rassen leiden vor allem unter Atemnot durch eine stark verkürzte Nase und eine Verengung der Nasenlöcher. Währenddessen bleibt die Zunge bei vielen Hunden sehr lang. Auch das beeinträchtigt die Atmung.
Die verkleinerten Nasenlöcher und darin gequetschten Nasenmuscheln stören ebenfalls die Thermoregulation. Diese ermöglichen normalerweise eine Herunterkühlung des Körpers. Ist dies durch eine zu kurze Nase eingeschränkt, überhitzen die Tiere schnell.
Hinzu kommt: Während der Gesichtsschädel dieser Rassen immer gedrungener wird, schrumpft die Haut hingegen nicht mit und es entstehen Nasenfalten. Und in diesen Falten entwickeln sich dann häufig Entzündungen. Auch Augenprobleme treten bei kurzschädeligen Rassen vermehrt auf.
Das sind nur einige Beispiele. Qualzuchtmerkmale haben verschiedene Ausprägungen, je nach Rasse. Und auch nicht nur bei Hunden – auch Katzen oder Kleintiere sind davon betroffen.
Wie schätzen Sie die vielen sehr kleinen Hunderassen ein?
Röcken: Viele Zuchtziele, die im Wesentlichen das Wachstum und damit die Größe und die Körperform des Tieres betreffen, sind problematisch. Denken Sie an die Verzwergung, z.B. bei Chihuahuas und Yorkshire Terriern. Folgen wie Bandscheibenvorfälle oder Fehlstellungen von Knochen und Gelenken sind hier keine Seltenheit.
Ebenso ist der Riesenwuchs wie bei der Deutschen Dogge und dem Bernhardiner äußerst problematisch. Diese Tiere neigen leichter zu Knochenkrebs, zu Magendrehung und anderen Problemen im Bereich der Gliedmaßen.
Neben den kleinen Rassen sind ja auch kurznasige Rassen sehr beliebt. Warum ist das Ihrer Ansicht nach so?
Röcken: Kurznasige Rassen wie Bulldogen und Möpse sind vor allem so beliebt, weil sie in ihrem Wesen sehr anhänglich und freundlich sind. Sie sind gelehrig, klug und kinderlieb und weisen das sogenannte Kindchenschema auf.
Was meinen Sie damit?
Röcken: Solche Hunde werden als süß, kindlich und niedlich wahrgenommen. Kindliches Aussehen ist offensichtlich ein ganz dominantes Zuchtziel bei vielen Züchtern und eine Vorliebe bei den Haltern.
Viele Menschen suchen ihre Tiere also vorranging nach der Optik aus?
Röcken: Das könnte man so sagen. Einige Menschen haben eine ganz bestimmte Vorstellung von den Tieren, die sie halten wollen. Viele Rassen sind so beliebt, weil sie etwas Bestimmtes verkörpern und auch eine Art Statussymbol darstellen. Wenn klein süß ist, dann ist winzig noch süßer. Üppiges Haarkleid ist ja so flauschig, Haarlosigkeit hingegen skurril. Bulliges Aussehen bei manchen Hunderassen wirkt männlich und kraftstrotzend.
Welche gesundheitlichen Probleme sich dahinter verbergen, wird dabei oft nicht hinterfragt. Man schaut erstmal auf die Dinge, die man gerne möchte.
Zudem kommt, dass viele Hundehalter die Beeinträchtigungen ihrer Tiere oft gar nicht wahrnehmen. Sie sehen es z.B. als normal an, wenn ein Hund extrem schnarcht. Weil sie es auch gar nicht anders kennen. Und da diese Merkmale auch schleichend über die Jahre entstanden sind und viele davon schon lange so bestehen, erscheinen sie in den Augen vieler letztendlich als völlig gewöhnlich.
Auszug aus dem Tierschutzgesetz
(1) Es ist verboten, Wirbeltiere zu züchten oder durch biotechnische Maßnahmen zu verändern, soweit im Falle der Züchtung züchterische Erkenntnisse oder im Falle der Veränderung Erkenntnisse, die Veränderungen durch biotechnische Maßnahmen betreffen, erwarten lassen, dass als Folge der Zucht oder Veränderung
1.
bei der Nachzucht, den biotechnisch veränderten Tieren selbst oder deren Nachkommen erblich bedingt Körperteile oder Organe für den artgemäßen Gebrauch fehlen oder untauglich oder umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten oder
2.
bei den Nachkommen
a) mit Leiden verbundene erblich bedingte Verhaltensstörungen auftreten,
b) jeder artgemäße Kontakt mit Artgenossen bei ihnen selbst oder einem Artgenossen zu Schmerzen oder vermeidbaren Leiden oder Schäden führt oder
c) die Haltung nur unter Schmerzen oder vermeidbaren Leiden möglich ist oder zu Schäden führt.
(…)
Qualzucht ist in Deutschland laut Tierschutzgesetz § 11b eigentlich verboten. Aber warum „funktioniert“ das Gesetz in diesem Fall nicht?
Röcken: Das Problem ist, dass das Gesetz zu unkonkret bleibt. Seit Jahren kämpfen verschiedene Institutionen, wie beispielsweise die Bundestierärztekammer, für eine Konkretisierung des § 11b. Bisher leider ohne Erfolg. Daher bleibt die genaue Definition von Qualzucht und deren Merkmalen bisher Auslegungssache. Das erschwert explizite Verbote. Bis dato können die zuständigen Ämter und Gerichte immer nur Einzelfallentscheidungen treffen.
Was heißt das in der Praxis?
Röcken: Es muss erstmal jemanden geben, der sagt, es handelt sich um eine Qualzucht, die zu Schmerzen, Leiden und Schäden bei einem bestimmten Tier führt. Dann muss man sich im Einzelfall zum Beispiel an das Veterinäramt wenden. Dieses muss eine detaillierte Erhebung machen mit konkreten Beweisen, wenn man jemanden anzeigen und ein Verbot aussprechen möchte.
Dazu kommt, dass es den Ämtern oft an zeitlichen und personellen Ressourcen fehlt, da sich die Veterinäre natürlich nicht nur mit dem Thema Qualzucht beschäftigen. Sie sind außerdem keine Qualzuchtspezialisten und brauchen eine Grundlage, anhand derer sie eine Einschätzung zum Sachverhalt geben können.
Falls das Veterinäramt dann eine Anzeige macht und ein Verbot aussprechen möchte, kann sich der Angeklagte natürlich einen Anwalt nehmen und Widerspruch einlegen. Wenn es dann vor Gericht geht, braucht es wiederum ein Gutachten. Am Ende entscheidet der Richter. Und das ist die große Schwierigkeit.
Was muss sich am Gesetz ändern, damit der Qualzuchtparagraph besser umgesetzt werden kann?
Röcken: Der Paragraph 11b des Tierschutzgesetzes muss konkretisiert werden. Das heißt, es müssen konkrete klinische Symptome oder Merkmale benannt werden, zum Beispiel Atemnot, Rolllid, Lahmheit oder auch neurologische Verhaltensauffälligkeiten, um aktiv werden zu können.
Und es muss letztlich auch wieder ein neues Gutachten erstellt werden zum Paragraphen 11b Tierschutzgesetz, das noch einmal genau darlegt, was Qualzuchtmerkmale sind. Möglicherweise müssen manche Rassen neu bewertet, oder Merkmale müssen neu aufgenommen werden. Andere Rassen müssen ggf. neu ins Blickfeld genommen werden.
Was muss sich in der Zucht ändern?
Röcken: Züchter sollten Rassestandards nicht ausreizen und die Zuchtordnungen müsste man so verändern, dass Gesundheit und Leistung im Vordergrund stehen – und nicht ästhetische Merkmale. Das heißt, Tiere mit extremen Merkmalsausprägungen sollten nicht zur Zucht zugelassen werden, sondern nur Tiere, die gesund und vital sind. Also im Falle des Mopses müssen die Zuchttiere eine längere Nase haben, kleinere Augen, keine Nasenfalten, weite Nasenlöcher und einfach gut atmen können. Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Züchter und Verbände müssen ihrer Verantwortung für die Gesundheit ihrer Tiere gerecht werden und sich langfristig für tierschutzkonforme sowie nachhaltige Zuchtordnungen und -ziele einsetzen.
Auch private „Hobbyzüchter“ müssen hier verantwortungsvoller handeln. Viele Privatbesitzer verpaaren ihre Tiere eigenständig, ohne, dass diese die notwenigen Zuchtuntersuchungen durchlaufen sind.
Wie sieht es mit Ausstellungen aus?
Röcken: Bei betroffenen Rassen muss darauf hingewirkt werden, dass bei Ausstellungen und Wettbewerben jeglicher Art die Tiere, die extreme Qualzuchtmerkmale aufweisen, weder teilnehmen noch prämiert werden dürfen. Zudem sollte die Kontrolle und Begleitung durch Veterinäre fester Bestandteil sein.
Zwar enthält die kürzlich aktualisierte Tierschutz-Hundeverordnung im § 10 ein Ausstellungsverbot für Hunde, die dem Zuchtverbot von § 11b Tierschutzgesetz unterliegen. Eine fehlende Konkretisierung erschwert aber auch hier die Umsetzung dieses Paragraphen.
Wie wichtig ist die Rolle von Ihnen, als Tierärzten?
Röcken: Unsere Aufgabe sehe ich vor allem in der Aufklärung potentieller Tierkäufer und Halter von Tieren mit Qualzuchtmerkmalen. Aber auch in der Beratung von Züchtern und Zuchtvereinen oder von Ausstellungsrichtern in Hinblick auf tierschutzrelevante Aspekte. Auch das Thema Weitebildung von uns Tierärzten selbst, speziell zum Thema Qualzucht, gehört dazu.
Das Thema Aufklärung ist sowieso ein wichtiger Schlüsselpunkt, oder?
Röcken: Auf jeden Fall. Die Gesetze alleine sind nicht das Vielbringende. Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärungskampagnen sind und bleiben unerlässlich. Denn die Problematik dahinter muss die Menschen erreichen. Sie müssen kritischer hinterfragen und sich informieren – und zwar an der richtigen Stelle, bevor sie sich ein Tier kaufen.
Auch Unternehmen oder die Medien sehe ich hier in einer gewissen Verantwortung und als Teil der Aufklärung. Werbung, Social Media oder promintente Leute haben einen ganz nachhaltigen Einfluss. Dadurch werden manche Rassen oft erst populär und begehrlich – daran muss sich etwas ändern.
Welchen Einfluss können Tierinteressenten auf die Problematik nehmen?
Röcken: Wie in anderen Bereichen bestimmt auch hier die Nachfrage das Angebot. Das heißt, durch den Kauf von Qualzuchtrassen wird auch die weitere Zucht gefördert. Interessenten müssen sich der Problematik bewusst werden und sich auch bewusster für ein Tier entscheiden. Den Kauf von leidenden Moderassen sollte man nicht unterstützen – auch nicht aus Mitleid und erst recht nicht illegal.
Wie stehst du zum Thema Qualzucht? Wer trägt deiner Meinung nach die größte Verantwortung in der Problematik und was sollte sich dringend ändern?
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